Es ist ein stiller Monat – der November. Ruhe in den dunklen Tagen, Rückzug in die warme Wohnung, das warme Haus. Grau. So kennen wir ihn, den November.
Kästners Worte malen ein Bild der Traurigkeit, der Vergänglichkeit und der stillen Resignation. Der November wird hier zum Symbol für das Ende, für das Abschiednehmen – passend zu den christlichen Gedenktagen Allerheiligen (1. November) und Allerseelen (2. November), an denen in Europa der Verstorbenen gedacht wird. Friedhöfe werden besucht, Gräber geschmückt, Kerzen entzündet. Es ist eine Zeit der Besinnung, der innerlichen Einkehr.
Allerseelen – Allerheiligen – Días de los Muertos
Während Europa im November oft in Grau getaucht ist, erstrahlt Mexiko in leuchtenden Farben. Die „Días de los Muertos“ (1. und 2. November) sind ein Fest, das den Tod nicht als Ende, sondern als Teil des Lebens feiert. Auf den Straßen und in den Häusern findet man bunte Altäre, geschmückt mit Blumen, Kerzen, Essen und Fotos der Verstorbenen.
Die Feierlichkeiten sind laut, fröhlich und voller Musik. Familien versammeln sich, um gemeinsam zu essen, zu tanzen und Geschichten über die Verstorbenen zu erzählen. Der Tod wird nicht gefürchtet, sondern als natürlicher Teil der Existenz akzeptiert.
Gegenpole oder zwei Seiten derselben Medaille?
Kästners „November“ und die mexikanischen Feiertage scheinen auf den ersten Blick unvereinbar: hier die stille Trauer, dort das laute Feiern. Doch bei genauerem Hinsehen zeigen beide Traditionen, wie unterschiedlich Kulturen mit dem Thema Tod umgehen – und werfen auch einen Blick auf den Urgrund christlicher Hoffnung:
In unseren Städten und Dörfern leuchten die Lichter auf den Friedhöfen, ein kleines, zaghaftes Zeichen für so viel mehr, das dahintersteckt: Hoffnung auf Leben. Diese Hoffnung flackert in den Kerzen, die auf den Gräbern brennen, in den stillen Gebeten, in den Gesprächen beim traditionellen Kaffee und Kuchen nach dem Gräberbesuch. Sie lebt in der Erinnerung an die Verstorbenen, in den Geschichten, die weitererzählt werden, in den Tränen, die getrocknet werden. Hier ist die Hoffnung leise, aber sie ist da – ein zartes Versprechen, dass der Tod nicht das Ende ist.
Hoffnung auf Leben – in Mexiko als großes Fest. Dort wird der Tod nicht nur erinnert, sondern gefeiert, als wäre er ein Gast, der jedes Jahr wiederkommt und mit Freude empfangen wird. Die bunten Altäre, das Lachen, die Musik – all das ist Ausdruck einer tiefen Überzeugung: Die Verstorbenen sind nicht fort, sie sind nur unsichtbar anwesend. Die Hoffnung ist hier laut, farbenfroh, fast greifbar.
Kein Richtig, kein Falsch – nur unterschiedliche Wege
Es gibt kein richtig und kein falsch, kein besser und kein schlechter. Beide Traditionen haben ihre eigene Schönheit, ihre eigene Wahrheit. Doch immer wieder lohnt es sich, den Blick über den eigenen Tellerrand hinauszuwerfen. Als vor zwei Jahren ein befreundetes Ehepaar eine Reise nach Mexiko unternahm und dabei einen Dokumentarfilm über die „Días de los Muertos“ drehte, war ich in erster Linie beeindruckt. Nicht nur von den Farben, der Musik, der Lebensfreude – sondern von der Haltung: Den Tod als Teil des Lebens feiern. Nicht als Ende, sondern als Übergang. Nicht als Verlust, sondern als Fortsetzung in anderer Form.
Vielleicht können wir von dieser Haltung lernen. Vielleicht können wir den November nicht nur als Monat der Trauer, sondern auch als Monat der dankbaren Erinnerung begreifen – als eine Zeit, in der wir den Verstorbenen nicht nur gedenken, sondern ihnen auch ein Stückchen Leben schenken: durch Geschichten, durch Lieder, durch das Weitergeben ihrer Erinnerungen. In der Ruhe. Im Stillsein und im Feiern.
Wer einen Eindruck vom Días de los Muertos bekommen möchte, hier geht’s zur der oben erwähnten Dokumentation:
https://www.youtube.com/watch?app=desktop&v=OnkXvV0B9ZU
Maria Grüner