Wir Deutschen sind ja bekanntlich ein reislustiges Volk. 63 % der Teilnehmer bei einer Umfrage gaben an, eine mindestens fünftägige Reise in diesem Jahr unternehmen zu wollen. Warum ist für uns eigentlich das Reisen so wichtig? Auf diese Frage gibt es vermutlich ganz unterschiedliche Antworten: „Ich muss mal raus aus meinen vier Wänden.“ – „Ich muss mal wieder was anderes sehen.“ – „Ich habe den ewigen Alltagstrott satt!“
Am Ende sollte aber der Ortswechsel gar nicht das Entscheidende bei einer Reise sein. Ein Satz des französischen Literaturnobelpreisträgers Anatole France (1844-1924) lautet: „Was ist Reisen? Ein Ortswechsel? Keineswegs! Beim Reisen wechselt man seine Meinungen und Vorurteile.“
Laut Anatole France ist ein geistiger Ortswechsel beim Reisen wichtiger als ein rein geografischer. Eine Reise ist dann gelungen, wenn wir nicht nur unsere äußeren, sondern auch unsere inneren Standpunkte und Sichtweisen verändern. Gelingt das nicht, laufen wir in Gefahr, dass hinterher wieder alles beim Alten bleibt. Dann hatten wir vielleicht ein paar traumhafte, erholsame Tage, aber ein Mehrwert bleibt außen vor.
Ein Urlaub oder Reise ist erst dann wirklich erfolgreich, wenn wir nicht nur unseren räumlichen, sondern auch unseren denkerischen Horizont erweitern. Wenn die verschiedenen Eindrücke, die wir unterwegs gewinnen, eine neue Blickweise und ein neues Denken initiieren. Wenn wir durch neue Begegnungen alte Vorurteile abbauen.
„Beim Reisen wechselt man seine Meinungen und Vorurteile“, weil man dabei auf bisher Unbekanntes und Unentdecktes stößt, sich darauf einlässt und dadurch neue Denkweisen und Ansichten gewinnt: Wenn ich die Schönheit eines Sonnuntergangs am Strand oder eines Sonnenaufgangs in den Bergen erlebt habe, ist es mir vielleicht nicht mehr gleichgültig, wie wir Menschen mit unserer Umwelt umgehen. Wenn ich die Armut in der Favela eine südamerikanischen Großstadt gesehen haben, erscheint mein eigener bescheidener Besitz in einem anderen Licht; und und und…
„Beim Reisen wechselt man seine Meinungen und Vorurteile“. Ich wünsche Ihnen für die bevorstehenden Sommerwochen und –Urlaubswochen dass Sie nicht nur einen Ortwechsel sondern auch einen Sichtwechsel erleben. Ich wünsche Ihnen eine echte Horizonterweiterung. Und falls Sie nicht verreisen werden wünsche ich Ihnen auch hier Zeiten und Gelegenheiten manches Alltägliche und Gewohnte in einem neuen Licht zu sehen. Denn auch ein innerer Standortwechsel kann erholsam sein.
Ph. Kästle